Jacqueline Veuve

Cinéaste et ethnologue (1930-2013)

Texte von Jacqueline Veuve

[Texte, die sich nicht auf einen einzelnen Film beziehen]

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  • Drehortsuche (Repérages) – hommage à Michel Soutter et Delphine Seyrig

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Jacqueline Veuve 

Drehortsuche (Repérages) – hommage à Michel Soutter et Delphine Seyrig*

Am 20. Dezember 2003 mache ich mich um 13 Uhr auf Drehortsuche für meinen nächsten Film, «Die Musik des Herzens» («La musique du coeur»). Die Sonne scheint. Ich bin am «Eispalast» beim Schwarzsee (im Saanebezirk im deutschsprachigen Freiburger Kantonsteil) mit dem Kameramann Steff Bossert verabredet.

Dieser Eispalast wird jeden Winter von einem genialen Bastler errichtet, der von Beruf Schuhmacher ist. Im Sommer erhebt sich auf dieser Lichtung ein Berg von Rohren, der sich unter den Zauberhänden des Schuhmachers und dank des Frostes in eine riesenhafte, ziemlich kitschige Eisskulptur verwandelt: eine Kirche, Häuser, ein Palast, etc. Abends wird die Szenerie von kleinen, farbigen Scheinwerfern zum Strahlen gebracht. Durch Zufall bin ich früher, ebenfalls auf Drehortsuche, auf dieses Eisdorf gestossen. Und ich habe mir gedacht: Das wird meine «Schlusseinstellung». Wie François Truffaut, der in der «amerikanischen Nacht» einen Protagonisten fragen lässt: «Wie wär's mit einem Schluss im Schnee?» Das ist wirklich die Realisierung einer fixen Idee.

An diesem 20. Dezember mache ich mich also um 13 Uhr auf den Weg, ohne Handtasche, ohne Strassenkarte, ohne Telefon. Die Frau des Schumachers hat mir gesagt: «Nehmen Sie die Autobahnausfahrt Rossens, und dort fahren Sie Richtung Giffers.» In Rossens finde ich kein Schild mit der Aufschrift «Giffers». Keine Menschenseele in diesem Dorf. Ich halte ein Auto an. Ein charmanter junger Mann sagt zu mir: «Zu kompliziert, Ihnen das zu erklären. Fahren Sie mir einfach nach.» Ich folge ihm bis zur Verzweigung, wo ich abbiegen muss. Auf meinem Weg bin ich einer liebenswürdigen Person begegnet, der Tag beginnt gut. Es ist weit bis zum Schwarzsee. Ich hatte dort einige Szenen von «L'homme des casernes» gedreht. Jetzt hätte ich bereits am Treffpunkt sein sollen. Ich komme in Plaffeien an, noch 11 km bis zum Eispalast. Ich nehme die falsche Strasse. Ich denke: Gut, wenn ich nachher rechts abbiege, komme ich wieder auf den richtigen Weg. In der Hast und nur noch an die nächste Abzweigung denkend, überfahre ich einen Stop, und schon kracht's. Das andere Auto kam auf der Hauptstrasse von rechts, ziemlich zügig. Ineinander verkeilt schleifen die beiden Wagen ein paar Meter über die Strasse. Sekundenlang denke ich: Das bin nicht ich, ich träume. Dann sage ich mir: Hoffentlich überlebt der «Pace-Maker» den Aufprall... Wir steigen beide aus, ein wenig benommen vom Schock, aber unverletzt. Andere Autos halten an, Leute kommen auf uns zu. Sie kommen vor allem zu mir, denn mein Auto sieht böser drein. Man sagt mir: «Bleiben Sie, wo Sie sind. Bleiben Sie sitzen.» Jemand hat die Polizei gerufen. In Plaffeien, an einem Samstagnachmittag, ist so was das Ereignis des Tages. Ein Algerier nimmt mein Pannendreieck aus dem Auto und stellt es am vorgeschriebenen Ort auf. Es macht ihn richtig glücklich, mit jemandem Französisch sprechen zu können. Er sagt mir: «Sie sind Waadtländerin, was machen Sie denn hier?» Als ob ich von einem anderen Planeten käme. Dann kommt ein Tunesier mit seiner Freundin auf mich zu und sagt: «Haben Sie getrunken? Wenn die Polizei kommt, müssen Sie ins Röhrchen blasen, einen Stop überfahren, das heisst zwei Monate Fahrausweisentzug.» Da bekomme ich Angst. Zum Mittagessen habe ich ein Glas Roten getrunken, und ich stelle mir schon vor, wie mühsam das wird: Zwei Monate ohne Auto, für mich, die auf dem Land wohnt. Der Tunesier ist sehr gesprächig. Er erzählt mir, dass er sich von seiner Frau getrennt hat, dass er ihr die Alimente nicht zahlt, dass sie nicht wissen darf, dass er hier eine andere Frau spazieren fährt. Er fragt mich, was er für mich tun könne. Ich sage ihm: «Holen Sie einen Mann, der Steff Bossert heisst, vom Parkplatz des Eispalasts. Er hat eine Berner Nummer.» Die ganze Zeit spreche ich mit dem Fahrer des anderen Autos. Ich entschuldige mich. Er zeigt mir die kalte Schulter, antwortet nicht. Ich sage mir, dass er ärgerlich ist, was ich verstehen kann. Der Auflauf hat beträchtliche Ausmasse angenommen. Man behandelt mich wie ein Unfallopfer, eine Verletzte. Man rät mir, ins Gasthaus nebenan zu gehen und zur Stärkung etwas zu trinken. Von dort hat man eine schöne Aussicht auf den Unfall.

Ich würde mir auf den Schreck gern einen Cognac bestellen. Aber ich wage es nicht - das Röhrchen! Während ich meinen Tee trinke, stürzen sich alle Gäste ans Fenster, um den Unfall zu sehen. Um mich wichtig zu machen, sage ich: «Da sass ich drin.» Sie sind paff, dass ich nicht zerquetscht worden bin. Durchs Fenster sehe ich, dass der Algerier den Verkehr regelt. Steff trifft gleichzeitig wie zwei Polizisten ein. Sie sind nett und zuvorkommend. Während der Aufnahme des Unfallprotokolls stelle ich fest, dass der Besitzer des Wagens, den ich gerammt habe, nicht Französisch kann, dass er ein wenig Deutsch spricht und Ljupco Blaseski heisst... Die Polizisten empfehlen mir ein Europäisches Unfallprotokoll, welches ich und Ljupco Blaseski ausfüllen und gemeinsam unterzeichnen, und in dem ich die ganze Schuld auf mich nehme. Wenn sie das Protokoll aufnehmen, so erklärt mir der ältere der beiden Polizisten, kostet mich das 1000 Franken und wahrscheinlich einen Fahrausweisentzug von 2 Monaten, und diese Art Protokoll erstellen sie im Prinzip nur dann, wenn es Verletzte gegeben hat. Die Autos werden aus dem Weg geräumt. Ich lese die überall herumliegenden Splitter auf. Der Algerier sagt zu mir: «Als der Unfall passiert ist, war ich gerade unterwegs ins Restaurant, um eine Pilzschnitte zu essen. Jetzt ist es zu spät. Die Küche ist geschlossen.» Es tut mir leid, das mit seiner Pilzschnitte. Ihm tut es leid, das mit meinem Unfall. Von allen Seiten werde ich getröstet: «Sie sind unverletzt, das ist doch die Hauptsache.» Schon, aber mein Auto ist ein Haufen Schrott! Und überhaupt, ganz unter uns, ich finde, das Opfer, Ljupco Blaseski, ist nicht gerade ein brillanter Autofahrer, er hätte doch bremsen können, oder hupen, als er gesehen hat, wie ich ihm in bester Sonntagsfahrermanier den Weg abschneide.

Dieser Unfall hat Plaffeien für einen Samstagnachmittag unterhalten. Live inszeniertes Kino für die Leute dort. Für die Drehortsuche ist es zu spät. Nach dem Eispalast wollten wir uns noch verschiedene Kapellen ansehen. Steff fährt mich nach Hause. Ich erzähle ihm von einem Unfall, den Jean-Marc Henchoz gehabt hat: Eine Frontalkollision, worauf sich der Wagen mehrmals überschlagen hat. Ich hatte Jean-Marc gefragt, was ihm in diesen Sekunden durch den Kopf gegangen ist. Er hat mir geantwortet: «Ich dachte, ich hab's nicht genug genossen, ich hab's nicht genug genossen...». Das nimmt uns die Spannung, wir lachen. Boris Cyrulnik würde dazu sagen: ein wunderbares Unglück.

Eine Woche später teilt man mir mit, dass mein Auto irreparabel ist. Ich bin nicht verheiratet mit meinem Auto, wie die Franzosen, aber ich mochte es gut. Ein Teil des Honorars für meinen nächsten Film werde ich in einen neuen fahrbaren Untersatz stecken müssen. Ein Cousin, Arzt und Spezialist für Verkehrsunfälle, klärt mich über das Schicksal auf, dem ich entgangen bin: zerquetschter Pace-Maker, geborstene Knochen, durchbohrte Lunge. Mich schaudert, aber sofort gewinnt der cineastische Instinkt die Oberhand: Dieser Unfall muss unbedingt in meinen nächsten Film, «La musique du coeur».

Les Monts-de-Corsier, im Januar 2004

(*) Der Titel bezieht sich auf Michel Soutter und Delphine Seyrig für ihren Film "Repérages".

Erstveröffentlichung im Jahresbericht ARD/FDS 2003, p. 24ss (Übersetzung].    Originaltext französisch.


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